Indie-AutorInnen schreiben – Elke Heinemann (21)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist. Beim Hotlistblog kommen die fertigen Werke, Romane, Erzählungen, Lyrik, so benannter AutorInnen in die schmucke Auslage. In dieser Prosa-Reihe bitten wir sie um Unveröffentlichtes, Einblicke in Schreibprozesse oder Auszüge aus Romanprojekten.

(21)

Unsere Freude ist groß, gemütlich wird es mit unserem heutigen Gast aber trotzdem nicht. Das Thema ist zu brisant, mit dem sich die deutsche Schriftstellerin und Publizistin Elke Heinemann in ihrem Auszug aus der Erzählung Aufhäufle beschäftigt. Aufhäufle, „ein Mann unserer Zeit“, sieht sich als Experte mit Fragen zu „Flüchtlingskrise und Krisenflüchtlinge“ konfrontiert. Heinemanns grundlegende Beschäftigung gilt der „Erforschung der literarischen Fiktion“, dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. Die Konstruktion von Wirklichkeit klopft sie ab auf unsere damit verbundenen Wünschen und Ängsten und vor allem auf die Rolle der Medien. Ihr Schreiben ist direkt, dringlich und herausfordernd, sprachschöpferisch und voll bissiger Ironie.

Auch in ihrem aktuellen Roman Fehlversuche, 2018 erschienen in der edition taberna kritika, geht es um Erfindung und „wahre Geschichte“. Fehlversuche will dezidiert kein Kinderbuch sein, obwohl es nur von einem Kind handelt. Auf atemberaubend kurzer Strecke wird darin die drastische und verzweifelte Ich-Werdung der kleinen Elisa in einer deformierten Kleinfamilie – Mutter säuft, Vater mehr ab- als anwesend – geschildert: „… denn die Eltern lehnen aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber ihrer Kindheit jedes Zugeständnis an die Kindheit des eigenen Kindes kategorisch ab.“ Das sitzt.

Aufhäufle

Aufhäufle ist ein Mann unserer Zeit, er geht mit der Angst. Wenn man Aufhäufle nach der Angst fragt, öffnet er den Mund, ohne ein Wort zu sagen, er ist wie der Fisch im Netz, der nach Luft schnappt. Schließt er die Augen, ist alles finsteres Glühen, die Angst hat hinter den Lidern ihr Lager aufgeschlagen, sie wärmt sich an dem Feuer, das Aufhäufle den Schweiß auf die Stirn treibt, und produziert Tag und Nacht dystopische Romane: Eine Wüstenei weitet sich zur Welt, an deren Rändern Dörfer, Städte, Länder, Kontinente in Flammen aufgehen, eine Höhere Macht würfelt mit Sternen, Planeten und Kometen, kleiner noch als Fliegenschiss, durch aufgeblähtes Himmelsgewölk stürmen ein weißes, ein rotes, ein schwarzes und ein fahles Ross mit den endzeitlichen Reitern, die von Pest künden, von Hunger, Teuerung und Atomkrieg, von Invasionen aus dem All, Sonnenstürmen und Meteoriteneinschlägen. Aufhäufle ist der ewig Getriebene, verlassen ist er von allen einzeln oder in Gruppen auftretenden Göttern, er verirrt sich, infiziert sich, hat nichts zu geben, nichts zu nehmen, wird von einer marodierenden Bande angefallen oder von einem wilden Tier, am Ende droht ihm der Tod mit Durst, Hunger und Kälte, dem Dreigestirn elenden Verderbens. Urzeitliche Instinkte treiben Aufhäufle dazu, den Tod abzuwehren, der sich an seinen zahllosen Opfern betrinkt. Wankend verstellt er Aufhäufle den Weg, der flüchtet in das Dickicht eines versengten Stadtwalds, wie eins werdend mit der Finsternis.

All dies geschieht, wie gesagt, in den Gefängnissen einer Fantasie, die Aufhäufle hegt und pflegt wie andere einen Kleintierpark. Außerhalb seiner Fantasie wirkt Aufhäufle nicht wie ein Mann der Krise. Modisch nassrasierter Kahlkopf, Hemd und Hose in existentialistischem Schwarz. Im wirklichen Leben hat Aufhäufle einen Pakt mit der Angst geschlossen: Er sitzt als ihr Botschafter in der Fernsehsendung I Will Survive! und betrachtet seine gebetsartig verknoteten Finger. Von irgendwoher ertönt Musik, wie aufgepumpt mit Hoffnung wirkt sie, I Will Survive – hey, hey!  Auf dem wandgroßen Studiobildschirm sind die schwelenden Trümmer einer fernen Wüstenstadt zu sehen, die nicht nur von Brandbomben getroffen worden zu sein scheint, sondern auch von einem biblischen Fluch, dann ein spielzeughaft anmutendes Schlauchboot, überfüllt mit heftig gestikulierenden Menschen, es dreht sich ein paar Mal taumelnd um sich selbst, verschwindet dann im Wellengebirge des Mittelmeers wie einst Jonas im Maul des Wals.

Welcome Survival-Fans! Schon ist Johannes O. W. Schickedanz im Bild, eine massentaugliche Fernsehfertigfigur, das streichholzkurze Blondhaar hat der Moderator stylisch nach oben gegelt. Mit lässigem Winken begrüßt er das bezahlte Studiopublikum und den Experten der Sendung, Aufhäufle eben, der durch vogelhaftes Rucken des Kinns deutlich macht, bedächtige Antworten auf dringende Fragen geben zu wollen, die Schickedanz mit geheuchelter Ahnungslosigkeit vortragen wird, denn der Moderator weiß aufgrund von Erfahrung und Recherche sehr gut, was ein Mann vom Schlage Aufhäufles in unserer Zeit der Angst allen Survival-Fans empfiehlt.

Herr Aufhäufle, sagt Schickedanz, und wie so oft, wenn er etwas sagt, tut er zugleich etwas, jetzt drückt er die Luft mit der Hand herunter, um dem anhaltend applaudierenden Publikum ein Zeichen zu geben, er drückt mehrfach hintereinander mit der Hand auf die Luft, bis sich die Zuschauer beruhigen und die Luft unter seiner Hand verschwindet, sodass er sie auf den Tisch legen kann. Unser Thema heute: Flüchtlingskrise und Krisenflüchtlinge, sagt Schickedanz, er blickt Aufhäufle von Mann zu Mann an. Hand aufs Herz: Wie groß ist die Gefahr für uns?

Schattenrisse zeigen sich auf dem wandbreiten Studiobildschirm, dunkle Gestalten in hektisch bedingter Unschärfe von einem Laien gefilmt, einem Survival-Fan aus Hamburg, so der Filmkommentar, der an der Küste dieser griechischen Insel als Urlauber tourt, mit der Smartphone-Kamera erfasst er ein berstendes Schlauchboot in der Umarmung Leviathans, die Menschen an Bord verrenken in Verzweiflung die Arme, an arme Sünder im Fegefeuer könnte man denken, nur dass über den Köpfen anstelle züngelnder Flammen schäumende Wellen zusammenschlagen, anstelle ratloser Engel rastlose Militärhubschrauber rotieren. An Land verbringen neonfarbig gewandte Nothelfer die Schiffbrüchigen wie Lebendschlachtvieh in Transportcontainer, einer von ihnen ist laut Filmkommentar direkt vor Ort explodiert, ein anderer erst im deutschen Gastland.

Aufhäufle zeigt der Kamera ein starres Passfotogesicht. Er sei davon überzeugt, sagt er, während er die Fingerspitzen so fest gegeneinander presst, als handelte es sich um eine Geste von tiefer Bedeutung, dass sich diese vielen fremden Menschen in der Not zu Horden zusammentun werden, um andere Menschen zu überfallen, denen es besser geht, weil sie vorsorgen wollten, vorsorgen konnten und vorgesorgt haben. Mit anderen Worten: Du, lieber Survival-Fan im Studio und zu Hause vor dem Fernseher, du bist gefährdet!

Auf seinem inneren Bildschirm sieht Aufhäufle dabei unförmige Gestalten, halb schon vertiert, aus höhlengleichen Unterschlüpfen, Bretterverschlägen, Deckenlagern kriechen, in geduckter Haltung Feldwege, Seitenstraßen, Hinterhöfe passieren, in dunklen Nischen einander keifend und zankend abfleischen, bis nur noch grimassierende Skelette übrig sind, eine filmreife Zombie-Armee, die Kurs auf eine friedliche Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand nimmt, ohne auf der Zielgeraden von Polizei, Militär oder einer Höheren Macht gestoppt zu werden. Aufhäufle hat diesem Albtraum nicht nur in seinem Inneren Tag und Nacht viel Platz gewährt, sondern ihn auch gemeinsam mit einer Laienschauspieltruppe in ein Video umgesetzt, das jederzeit vorgezeigt werden kann, in geselliger Runde mit Gleichgesinnten zum Beispiel,  beim wöchentlichen Krisenstammtisch oder auf YouTube. Aber jetzt ist Aufhäufle im Fernsehen gefragt.

    Elke Heinemann wurde 1961 in Essen geboren, lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Studium der Komparatistik und Geschichte in Grenoble, Oxford und Berlin, nach literaturwissenschaftlicher Promotion Besuch der Henri-Nannen-Schule für Journalismus in Hamburg. Beteiligung an intermedialen Projekten, Veröffentlichung von Romanen, Monografien,  Kurzprosa, Hörspielen und Radio-Features sowie zahlreichen Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen. Zuletzt erschien der Roman Fehlversuche. Kein Kinderbuch (edition taberna kritika 2018). Zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, u. a. zuletzt das Alfred-Döblin-Stipendium 2012, den Deutschen eBook Award 2015 und ein Stipendium als Writer in Residence der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran 2016. Social Media: Homepage I Facebook I Twitter

Vielen Dank an Elke Heinemann für Ihren Beitrag!

Senta Wagner
(Foto von Elke Heinemann ©Heidi Scherm)

 

Hinterlasse einen Kommentar