Hotlistlesen (2) – Tumor linguae von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki

Hotlist 2015 LogoDie Lyrik und ihr Dilemma: verehrt und bewundert, aber kaum marktgängig. Gerade von manch unabhängigem Verlag wird sie daher besonderes gehegt. Und so ist es eine Freude, dass sich gleich zwei schmucke und (sehr) fremdsprachige Lyriktitel auf der diesjährigen Hotlist befinden.

Die Veröffentlichung der polnisch-deutschen Erstausgabe von Tumor linguae des Dichters Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki ist der Edition Korrespondenzen zu verdanken, die schon 2012 zum ersten Mal einen Gedichtband des Polen auf Deutsch veröffentlichte.
Wie sein Name schon sagt, schafft der Verlag (hier zum Porträt) seit seinen Anfängen Verbindungslinien und knüpft an internationalen Netzen. Das zeigt sich vor allem an dem Übersetzungsprogramm lupenreiner Qualität, das sich weit über Sprach- und Landesgrenzen zu den Literaturen in Europas Osten hineinstreckt. Poesie als dynamisches Geflecht an Stimmen und Positionen.

Die vorliegende Anthologie haben Michael Zgodzay und Uljana Wolf ins Deutsche übersetzt, von Zgodzay stammt das bereichernde Nachwort. Die breitere Entdeckung des Dichters hierzulande und andernorts ist dringend zu empfehlen. Wer stolperte nicht über diesen märchenhaften Namen? Tkaczyszyn-Dycki gilt nicht nur als Sonderling in der Dichtkunst, sondern auch als „Kultautor“ in seiner Heimat. Seine raunenden Leseperformances sind eigensinnig und unangepasst. Fern jeder Wasserglaslesung ziehen sie das Publikum ins Bodenlose.

20150923_081505XCIV. Verführer

hier bleibe liegen hier ist dein platz
und sag nicht dass dich niemand will
man siehts an ihrem verhalten dass
sie dich lieber nehmen als einen stein

oder einen kirschkern sag nicht dass
dich niemand will wo du doch süßer
als der wind bist der sich selbst schmeckt
im feld im wiegen der bäume im rauschen

der sich in jedem halm und kirschkern schmeckt und
uns papierschnipsel in den weg legt hier bleibe liegen
hier ist dein platz man siehts daran wie du im sinken
noch mit deinem bild im wasser flirtest mein lieber

 

Das Wort Tumor sagt zunächst nichts über gut oder böse aus. Gewebe ist da, das wuchert, unkontrolliert sich ausbreitet. Im Fall der vorliegenden 101 Gedichte von Tkaczyszyn-Dycki mit dem Titel Tumor linguae nehmen wir es als Bild für die Potenz der poetischen Sprache, gleichzeitig zeigt sich darin die Skepsis ihr gegenüber. Im Titelgedicht (LXV.) heißt es in der dritten Strophe: „mal im dunklen zimmer unten mal oben / je nach situation seit ich mich erinnere hab ich / kein verhältnis herrschaften zum geschrieben / fertigen gedicht auf wiedersehen meine liebste.“
Von der ersten bis zur letzten Buchseite erstaunt die Modellhaftigkeit der Form, ihre optische Homogenität, jedes Gedicht besteht aus gerade einmal zwei bis vier Strophen mit jeweils vier Versen oftmals gleicher Länge, von den Gedichtzyklen abgesehen. Darin insistiert eine süchtige Stimme auf ganz bestimmten Themen und Motiven, den Besuchen in „freudenhäusern“ und homosexuellen Wonnen, den lust- und leidvollen Erinnerungen an den Geliebten, den Tod, den vielen toten Angehörigen („knochen“), den zerstörten polnisch-ukrainischen Grenzlandschaften der Kindheit, der Schizophrenie der Mutter („krank im kopf“; übrigens auch Homosexualität galt im kommunistischen Polen als „Krankheit“). Besondere Anklänge in den Gedichten gibt es an die Ortlosigkeit der Menschen, Bindungsverluste oder auch an das „Getriebensein“.

Weil die Themen immer und immer wieder aufgenommen und nuanciert werden, zeigt sich, dass etwas gewuchert ist – die Reprisen ziehen sich verstreut über einzelne Verse sowie ganze Strophen durch den gesamten Band –, als ob der Kosmos des Dichters aufgeblättert würde, den er seit seinem Lyrikdebüt 1990 in nunmehr neun Bänden bannt. Die vorliegende textgenetische Auswahl durch die Übersetzer ist ein Best-of aus den ersten acht Büchern und nimmt sich der „dunklen und obsessiven Seiten des Werkes“ an, das die „Peripherien und die Randzonen des Seins erkundet“. Wenngleich auch lichte und überaus anmutige Texte zu finden sind.

Die Kleinschreibung des Polnischen wurde in der Übersetzung schlicht beibehalten, allein Eigennamen und geografische Namen werden groß geschrieben. Eine Zeichensetzung gibt es, abgesehen von wenigen Klammerzusätzen und Zitaten in Anführungszeichen, nicht, das braucht es für dieses eindringliche Sprechen auch gar nicht, genauso wenig wie Reimformen. Die zahllosen Zeilen- und Strophensprünge binden die Lesenden an eine genaue Lektüre. So ist in allen 101 Gedichten Tkaczyszyn-Dyckis Gestus der Emphase erkennbar, um Worte für die „Zumutungen der Wirklichkeit“ zu ringen. Dies tun sie auf eine ganz eigene anziehende Weise, ebenso keusch und diskret wie unkeusch und wüst.

III.

meine schwester Wanda bringt eine lilie vom spaziergang
und ich schreibe ein gedicht über den tod
und ich beginne dieses gedicht von neuem
kann es nicht beenden

oder mittendrin aufhören damit es zittert
wie die lilie todesnah wenn ich für sie
das einzige echte wort suche
statt einen becher wasser

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  • Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki: Tumor linguae. Gedichte. Polnisch/Deutsch, übersetzt von Michael Zgodzay und Uljana Wolf. Wien: Edition Korrespondenzen 2015. 224 Seiten. 22 Euro

 

 

 

 

 

 

Senta Wagner (Beitrag erscheint zeitgleich bei „We read Indie„;
Gedichte sind aus dem besprochenen Band)

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