Von wegen so schön weiß hier

Alles ist immer möglich. Auch dass im Winter der Schnee nicht kommt. Derzeit zeigt sich zwar in Österreich ein recht anderes, weißes Bild, aber dort wird ja auch „Ende Jahr einfach der Schnee wie ein Teppich“ eingerollt und „im Bunker“ verstaut und im nächsten Winter wieder hervorgeholt. Hilft nichts. In einem Winkel des Kantons Graubünden ist die Sache drängend und an ihr hängt die Existenz eines Schleppliftes, ein echter Oldtimer, und zweier heldenhafter Skiliftkauze. Alles in Der letzte Schnee des Schweizer Schriftstellers Arno Camenisch hat irgendwie Seltenheitswert. Vom ultramodernen Skizirkus ist weit und breit nichts in Sicht.
Georg und Paul stehen verdutzt, aber stoisch parat, jeden Morgen aufs Neue, an ihrem „Schleppi“, richten Wollmütze und Käppi (oder andersherum), bringen Ordnung in die Dinge mit Worten und Taten, spannen den Sinalco-Sonnenschirm auf und zu, zählen die Schlepperbügel, schauen in die Gegend, auf die Uhr, ins „Schurnal“. Ihr eifriges, meist monologisches Reden kreist um Gott und die Welt, die Liebe, den Tod, den Sohnemann, Glanzzeiten des Lifts: „der Georg sagt, der Paul sagt“, sie geben sich selbst die Sichworte. Es herrscht Konsens, und wenn nicht, gibts ein gemeinsames Gläschen Schnaps. Woher die beiden kommen, wohin sie gehen, wissen wir nicht. Georg und Paul haben sich mit einer ordentlichen Portion Schalk auf das Warten kapriziert: auf den Schnee, die Touristen. Ihre Stoßgebete zum Himmel bleiben meist ungehört. So oder so vergeht die Zeit: „… wo ist der Tag denn wieder hin, wo es doch gerade erst zwei war.“ Dass unsere Liftboys bereits aus der Zeit gefallen sind, dämmert ihnen erst, nachdem beide Uhren, die im „Hüttli“ an der Wand und die von Georg, stehen geblieben sind.

Arno Camenisch kann derzeit kaum Luftholen zwischen seinen vielen Leseauftritten. Er ist inzwischen ein gefeierter Großer, der den Sprachenreichtum der Schweiz in seinem Schreiben entfaltet. Seit 2009 hat er insgesamt neun Werke im rührigen Schweizer Engeler-Verlag (Romane und Prosa) veröffentlicht, davon zwei auf Romanisch, der „Herzenssprache“ Camenischs. Sie ist zugleich die Amtssprache seines Heimatkantons Graubünden, die sich nochmals in fünf Mundarten gliedert. Rein hochsprachliche Texte wird man bei ihm nicht finden, dafür allerhand mundartliche Einsprengsel.
Camenischs charmante Sprache in seinem jüngsten Erzählstück überzeugt: Sie hat einen stark mündlichen Charakter und singsangt lebendig und unmittelbar im Präsens dahin, der Textfluss wird durch wenige Absätze unterbrochen – ein Buch kompakt wie eine Schneedecke. Der Sound seiner Literatur ist die Musik, Klang und Rhythmus. Der Autor denkt und schreibt vom Ende her, oft augenzwinkernd, mit einem Hang zum Absurden, heiterem Witz und Ernsthaftigkeit: Verlust und Untergang dörflicher Welten, wohl auch seiner eigenen Talschaft, sind seine Themen. Er beobachtet und beschreibt diese genau, ohne Nostalgie, dafür mit leiser Melancholie. Tatsächlich, was machen wir auch mit unserer Welt, im Kleinen wie im Großen. So spielt der Der letzte Schnee nicht nur auf den Klimawandel an, sondern ist auch was die Verantwortlichkeit der (US-)Weltpolitik betrifft up to date. Aber nur en passent, im Vorbeiziehen, wir sitzen ja schließlich im letzten Schlepplift.

Ein himmlisches Buch, das ohne eine einzige tief verschneite Landschaft auskommt. Denn „Wo kein Schnee liegt, begräbt uns auch keine Lawine.“

 

  • Arno Camenisch: Der letzte Schnee. Schupfart: Engeler-Verlag 2018. 99 Seiten. 10 Euro

 

Senta Wagner (sentafoto)

 

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