Indie-AutorInnen schreiben für uns – Angelika Reitzer (17)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist. Beim Hotlistblog kommen die fertigen Werke, Romane, Erzählungen, Lyrik, so benannter AutorInnen in die schmucke Auslage. In dieser Prosa-Reihe bitten wir sie um Unveröffentlichtes, Einblicke in Schreibprozesse oder Auszüge aus Romanprojekten.

(17)

Bei (in vielerlei Hinsicht) herrschender Kälte, lässt es sich im Warmen (noch) gut lesen. Angelika Reitzer, unser heutiger bewunderter Gast, trägt ihren Teil dazu bei. In dem Auszug aus dem bald, bald im Verlag Jung und Jung erscheinenden Roman Obwohl es kalt ist draußen  sucht die österreichische Schriftstellerin das „große Ganze“ im Alltag zweier Liebender zwischen schönem, zwanghaftem Tun (Modeln, Fotografieren, Platten auflegen), Berufen, Sattheit und Glück, Familiengründung, Sehnsüchten, Widersprüchen, Selbstentäußerung und Selbstwirksamkeit. So einfach aushaltbar ist das aber nicht für die beiden. Was bleibt, ist das, was fragil ist in den Menschen. Der Drang, gleichsam die Angst aus großer Höhe zu springen (= Höhenphänomen), die Barbara immer wieder spürt, sei nichts anderes als der Drang zu leben, sagt die Autorin.
Mit ihrer sachten und reichen Sprache fängt sie das Schwebende, das Beunruhigende, dieses „Auf-dem-Sprung-Sein“ in ihrer Geschichte souverän und mit einem besonderen Grad an Innerlichkeit ein. Elegant verdichtet sie auf zweihundert Seiten, die richtig sitzen, ein Leben in Verbundenheit. Dabei wird ein Schreiben produktiv, das Reitzer mit dem Wunsch verbindet, „so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu erzählen“. Ebenso hellhörig wie für individuelle Gefühlslagen und einem Sinn für Zusammenhänge zeigt sie sich für zeitaktuelle Befindlichkeiten und Entwicklungen und fragt sich in Anbetracht des „schönen Scheins eines glücklichen Lebens“: „Wer macht jetzt die Revolution?“ Tatsächlich, welche Akte sind Akte des Widerstands? Und „wer verbessert die Welt für den gewünschten Nachwuchs“? Ja: Obwohl es kalt ist draußen erzählt überaus kunstvoll von Lebensmut und -übermut.

 

Obwohl es kalt ist draußen

Statt in ein EU-Büro ging Ante mit Barbara ins Museum, sie wollte zu den Alten Meistern und war erstaunt, wie viele Besucher die Bilder vor allem fotografierten statt sie zu betrachten. Immer wieder trafen sie auf eine Gruppe mit einer italienischsprachigen Führerin. Manchmal blieb Barbara in ihrer Nähe stehen. Ein paar der Frauen hatten etwas Verspieltes: Sie lachten und tratschten, machten sich über einen aus ihrer Gruppe lustig. Pensionierte Akademiker mit ihren Seidentüchern und -schals und filigranen Brillen, den guten und doch gerade noch eleganten Schuhen, die wissend oder abwesend nickten. Barbara musste an ihre Eltern denken, die trotz ihrer großen Neugier selten in Museen gingen. Sie hätten gut in diese Gruppe gepasst, oder war es nur ein Wunsch Barbaras, für die ein Ausflug in ein Museum eine Selbstverständlichkeit war? In deren Nähe fiel es ihr leichter, ein Bild länger zu betrachten und sich Geschichten dazu auszudenken. Ante entzog sich, und doch stießen sie immer wieder aufeinander, eine Berührung, ein Moment vor einem Bild. Was für ein Paar waren sie, im Musées royaux des Beaux-Arts?
Vor dem Engelssturz erzählte Barbara von Michael, der gegen den Drachen kämpfte. Die Gruppe war an dem Bild vorbeigegangen, nur eine Frau war stehengeblieben und hörte ihr zu. Fliegen und schwimmen wie bei Hieronymus Bosch. Schwärme und Käfer und ein ganzes Lexikon voll von Gut und Böse. Alles war Symbol, die Engel, die waren hierarchisch. „Jenseits der kosmischen Ordnung kreisen vollkommen und rein in der Nähe von Gott die Seraphim und die Cherubim und die Throne. Die Seraphim haben sechs Flügel, mit denen sie ihr Gesicht und ihre Scham bedecken und fliegen. Aber was später als Feuer der Liebe gedeutet wurde, war zuerst der schmerzhaft-brennende Biss einer Wüstenschlange. Die Cherubim sind die Vieläugigen, die Weisheit und Wissen spenden. Aus dem Bild von Cherub als Thronwagen Gottes mit den Gesichtern eines Löwen, eines Stiers, eines Adlers und eines Menschen entwickelte sich die alte Vorstellung, dass Gott auf den Gewitterwolken daherkommt.“ Der pustende Wolkengott aus Barbaras Kindheit.
Sie hätte Ante, vor Bruegels Gemälde stehend, auch noch von den Herrschaften, Mächten und Gewalten erzählen können, die den Grund aller Dinge nicht in Gott selbst, sondern in der Vielheit der Ursachen sahen, die wie Baumeister die Pläne der Architekten ausführten, die Himmelskörper bewegten und für die Wunder verantwortlich waren. Oder von den Fürstentümern, die über die irdische Welt wachten, für Völker und Staaten zuständig. Aber sie sagte: „Fast zuletzt kommen die Erzengel, die Boten Gottes, und dann erst, ganz unten in der Hierarchie, die Engel, wie wir sie kennen, die Erleuchtung und Weisheit für uns übrig haben.“
Viel an Barbaras Arbeit war Beziehungsarbeit, der Himmel spielte dabei überhaupt keine Rolle. Es ging immer um die einzelnen Menschen, um die Jugendlichen und um sie selbst. Das Universum, Staatengebilde, die Anrainer? Natürlich wusste Barbara, dass das Leben der Jugendlichen in direktem Zusammenhang mit Gesellschaften außerhalb ihres Bezirks stand, mit den Auffassungen, die die Familien von Religion und Politik hatten. Dass sie nicht aus Entdeckergeist und Neugierde da waren, sondern aus Mangel an Möglichkeiten, manchmal aus Zufall. Für die Alten gehörte Barbara ebenso weg wie die, die sie vertrat. Die Polizisten, von denen manche die Jugendlichen fies behandelten oder auszutricksen versuchten, wollten sie manchmal auf ihre Seite ziehen. Hier das System und dort die draußen. Aber sie und ihre Kolleginnen waren parteiisch. Sie halfen den Jugendlichen, und die mussten ihnen nicht einmal ihre richtigen Namen sagen.
Schutzengel wirkten immer in bestimmten Situationen, sie konnten einzelne zu guten Taten inspirieren, wenigstens theoretisch. Dass sie Menschen in Notsituationen unterstützten, stand schon im Alten Testament, wogegen die Vorstellung, dass jedem ein besonderer Engel zugeteilt ist, eher neu war. Dem allem widersprach nicht, dass Unfälle geschahen. Schutzengel waren keine allmächtigen Wesen, und sie konnten nicht immer zur Stelle sein. Barbara fühlte sich den Schutzengeln zugehörig, was nichts damit zu tun hatte, dass manche Menschen sie für ihre Arbeit bewunderten. Sie war unterste Engelkategorie und sie bekam Geld dafür. Fallen konnten alle.
Das alles konnte sie Ante nicht erklären. Verstand er, dass dieses Bild für sie so viel mehr war als eine von Kreaturen, Zwischen-, Übergangswesen und Gerätschaften wimmelnde Szenerie zwischen Himmel und Erde? Ihr Leben, zu dem der Tanz ebenso gehörte wie guter Sex, beste Freunde und ihre Schwester? Ante dachte oder fragte: „Heiratest du mich?“
Er fühlte sich in dem Museum in Brüssel wie sein Namenspatron, der Henker Antonius aus Rom, der im Anblick seines Engels bekehrt wurde. Nicht zum Glauben, sondern zur Liebe. Er war kein Märtyrer, und Christ war er nur dem Taufschein nach.

(Romanauszug aus Obwohl es kalt ist draußen, 2017)

 

  • Angelika Reitzer wurde 1971 in Graz, sie lebt und arbeitet in Wien. 2007 erscheint ihr Debütroman im Haymon Verlag. Zuletzt erschienen: Im Schatten der Utopie (Film von Antoinette Zwirchmayr, Text A. Reitzer, 2017), Die Finsternis aufhalten (Regie: Jacqueline Kornmüller, 2016), Wir Erben (Roman bei Jung und Jung, 2014). Outstanding Artist Award 2016, Literaturpreis des Landes Steiermark 2014.

Am 2. März 2018 erscheint Obwohl es kalt ist draußen – oh, was sind wir in freudiger Erwartung.

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Mit großem Dank an die Autorin für Ihren Beitrag!

 

(Foto Angelika Reitzer 2017 © Peter Rigaud)

(Senta Wagner)

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