Das amerikanische Gefühl und ein Gespräch

Mehr als drei Jahre ist es her, dass Theodora Bauer hier auf dem Blog ihren ersten Auftritt hatte: mit ihrem Romandebüt Das Fell der Tante Meri. Es sorgte bei Publikum und in den Medien für Staunen und Begeisterung, weil ganz arg junge Debütantin, gewichtiges zeitgeschichtliches Thema, kühne und gewitzte Umsetzung. Dann war meist Stille und Schreibzeit. Jetzt meldet sich die österreichische Autorin mit ihrem zweiten Roman zurück und betritt auch mit Chikago historisches Terrain. Beide Romane sind im unabhängigen Wiener Picus Verlag erschienen. Bauer verlässt in ihrer Geschichte mit wehenden Fahnen das dörfliche Burgenland zu Beginn der Zwanzigerjahre, also kurz nach seiner Landnahme, und setzt über „ins“ Amerika, wo es damals alle Glückssuchenden und Hoffnungsvollen hintrieb. Und blättert damit ein Kapitel globaler Migrationsgeschichte auf. „Der Feri hat seine Tante einmal gefragt, ob es eine Zeit gegeben hat, in der niemand ausgewandert ist?“

Geopolitisches Agieren – Anschlüsse, Grenzverschiebungen, Landnahmen – ist eine böse und komplizierte Sache. Früher, zur Zeit des Kaiserreichs Österreich-Ungarn, wie heute. Daran, wie es den Menschen bei solchen oft gewalttätigen Umwälzungen geht, denkt eigentlich kaum einer. So empfinden es auch die Figuren des Romans, die sich im frisch gekürten Burgenland mit Fragen der Zugehörigkeit und Gefühlen von Heimatlosigkeit konfrontiert sehen. Mit besonderem Unverständnis begegnet die Romanfigur Anica/Ana den Entwicklungen, sitzt sie doch am liebsten auf „ihrer“ Bank, schweigt und blickt übers Land, in Richtung heutiges Bratislava. Kittsee, ihr Heimatdorf (samt Ortsteil Chikago), liegt nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich „zwischen den Welten“, es herrscht Mehrsprachigkeit, ablesbar an den hin und her übersetzten Figurennamen und kroatischen Einsprengseln.
Dezent und kundig lotst Bauer in den kurzen Kapiteln durch die geschichtlichen Hintergründe, streut hier und da Orte und Ereignisse, ohne jemals ihre Figuren zu überfordern. Das intellektuelle Verstehen, das Kommunizieren ist deren Sache nicht, vieles wird klaglos als gegeben hingenommen, wie etwa die wirtschaftliche Not und die ungewollte Schwangerschaft von Anicas jüngerer Schwester Katica. Vielmehr liegt die Betonung auf dem Handeln und einem starken Wahrnehmen, einem gefühlsmäßigen, schier körperlichen Begreifen. Da tun schon mal Kopf und Seele weh vom angestrengten Nachdenken. Dies ist ein wichtiger Punkt für die Autorin, derzufolge es „auch ein gefühlsmäßiges, sehr genaues Verständnis der Verhältnisse gibt, das ein sehr fundamentales sein kann, wiewohl es sich vielleicht nicht in Worte fassen lässt“. Tatsächlich findet dieser Aspekt seine Entsprechung in der bewusst schlichten, reizvollen Sprache, die Grammatikregeln unterläuft und munter im Perfekt dahinschnurrt. Strikt kapitelweise aus der Innenperspektive der grandios gezeichneten Charaktere erzählt, scheint aber doch manches Ereignis gedreht und gewendet zu werden. Bauer kann aber auch andere Register ziehen. In Teil drei, 1937, führt sie mit Lily eine tragische Figur aus der amerikanischen Oberschicht und deren rationales Denken ein.

Feri, der Kindsvater und Sohn von Auswanderern, hat von Anfang an das „amerikanische Gefühl“. Hier will sich einer am besseren Leben bedienen. Hals über Kopf verlässt er 1922, zu Beginn des zweiten Teiles, gemeinsam mit den unzertrennlichen Schwestern das Land und die drei lassen sich im rauen, lauten Chicago nieder, unter kaum besseren Umständen, auch hier zeichnet sich die Wirtschaftskrise ab mit dramatischen Entwicklungen ab. Im vierten Teil, ebenfalls 1937, geht Anica, wie eh und je unbeugsam, entschlossen und opferbereit, nach schmerzhaften Verlusten mit ihrem inzwischen halbwüchsigen Neffen zurück in die alte Heimat, wo am Vorabend des Zweiten Weltkrieges kaum bessere Zeiten für sie anbrechen. Es waren das Glück, das bessere Leben doch nicht zu finden. Wer aber hat ein Recht darauf? Und was sind die Voraussetzungen? Was bedeuten Wünsche und Hoffnungen? Diese Fragen sind nach hundert Jahren brisanter denn je. Theodora Bauer geht sie in ihrem Schreiben auf ganz eigene, feinfühlige Weise an und macht sie direkt für die Literatur fruchtbar.

 

  • Theodora Bauer: Chikago. Wien: Picus Verlag 2017. 254 Seiten

 

Gespräch mit Theodora Bauer

 

Theodora Bauer (Foto © Paul Feuersänger)

Ihr Debütroman Das Fell der Tante Meri (2014) hat ein großes Medienecho hervorgerufen und viele Lesereisen mit sich gebracht. Wann fanden Sie Zeit und Raum für Chikago? Und inwieweit hat der Erfolg Ihr weiteres Schreiben beeinflusst?

Mir ist im Laufe der Bewerbung des Romans bewusst geworden, dass es sehr wichtig ist, auch und gerade als Kunstschaffende auf sich selbst Acht zu geben und sich nicht allzu sehr zu verausgaben. Ich habe mir deshalb bewusst viel Zeit für das neue Buch genommen und dazwischen auch Ausflüge in andere Genres unternommen; beispielsweise ist letztes Jahr mein Essay „Cosí fanno i filosofi“ zu Mozarts Opern erschienen und ein Theaterstück vom jungen Bühnenverlag Schultz & Schirm unter Vertrag genommen worden. Ein gutes Stück Kunst braucht meiner Meinung nach viel Zeit, es muss – zumindest in meinem Falle – auch abliegen können; und diesen Raum, diese Zeit habe ich „Chikago“ gegeben.

Ihr literarisches Interesse gilt historischen Epochen, die komplex sind und sicher aufwendiger Recherchen bedürfen. Worin liegt für Sie der besondere Reiz? Schöpfen Sie dennoch auch aus persönlichen, in diese Zeiten zurückreichenden Familiengeschichten?

All meine Bücher werden mit dem Impetus geschrieben, die Gegenwart verstehen zu wollen; nur bedarf es dazu sehr oft eines Ausflugs in die Vergangenheit. Ich habe überhaupt das Gefühl, dass diese Ausflüge – wohl weil sie, wie Sie richtig sagen, auch von der Recherche her sehr anstrengend sind – viel zu selten unternommen werden. Aber sie zahlen sich aus – Entwicklungen, die uns jetzt betreffen, haben ihre Wurzeln oft in einer fast schon in Vergessenheit geratenen Vergangenheit, und wenn dem nicht so ist, dann kann man zumindest aus vergangenen, ähnlich gelagerten Problemstellungen etwas über die heutigen lernen.
Aus persönlichen Familiengeschichten schöpfe ich – ich kann jetzt nur für meine bisherigen zwei Romane sprechen – nicht; aber die Texte sind insofern immer auch persönliche Geschichten, als sie meine persönliche Umgebung, das Land, in dem ich lebe, und seine oft auch verdrängte Geschichte betreffen.

Welche Begegnungen hatten Sie in Chicago?

Ich hatte viele spannende und bereichernde Begegnungen in Chicago, von denen jede einen eigenen Bericht wert wäre. Was mich aber am meisten berührt hat, war die Hilfsbereitschaft, die mir in meinen Recherchen an allen Orten – sei es in Chicago, im Burgenland oder in Hamburg und Bremerhaven, wo ich in Auswanderermuseen recherchiert habe – zuteil geworden ist. Ich bin sehr dankbar für diese Unterstützung, denn ohne den Input verschiedenster Experten und Expertinnen wäre das Buch wohl nicht das geworden, was es ist.

Ist die wechselvolle Geschichte des Burgenlandes noch heute in den Geschichten der Alten spürbar, insbesondere was auch den Zeitsprung im Buch betrifft?

Ja, das Burgenland ist nach wie vor spürbar ein Grenzland; aber die erinnerte, bewusst gemachte Geschichte ist nur mehr in Splittern vorhanden, in brüchigen Erzählungen von ausgewanderten Tanten oder reichen Onkeln in den USA, gewissermaßen in persönlichen und kollektiven, seltsam fragmentierten Geschichtsfetzen. Es hat mich sehr gewundert, dass eine so massive geschichtliche Entwicklung wie die Auswanderung großer Bevölkerungsteile des Burgenlandes nicht deutlichere Spuren im kollektiven Bewusstsein hinterlassen hat.

Tatsächlich geht es ja in „Chikago“ sehr stark um das Erspüren, um Gefühle, die sich körperlich ausdrücken, weniger um das intellektuelle Verstehen der Verhältnisse. War den Figuren nicht mehr zuzumuten?

Das ist eine sehr spannende Frage – ist den Figuren nicht mehr zuzumuten? Vielleicht mute ich ja gerade durch diese verweigerte Interpretation nicht den Figuren, sondern dem Publikum etwas zu. Ich enthalte die intellektuelle Einordnung vor; wenn sie geschehen soll, muss man sie sich (wie im wirklichen Leben) selbst erarbeiten.
Ich denke, dass es auch ein gefühlsmäßiges, sehr genaues Verständnis der Verhältnisse gibt, das ein sehr fundamentales sein kann, wiewohl es sich vielleicht nicht in Worte fassen lässt. Andererseits ist genau dieser Mangel an Worten – im Sinne eines Mangels an Kommunikation – eines der zentralen Probleme der Figuren im Buch. Sie sind zwar ganz selbstverständlich mehrsprachig, reden aber nicht miteinander. Es wird von allen Seiten viel erlitten, aber wenig darüber gesprochen.
Ich glaube außerdem, dass selten eine Gesellschaft so von intellektueller Einordnung, von Benennung und Etikettierung, von Aus-dem-Unbewussten-Holen (da nichts ein Recht hat, im Dunklen zu verbleiben) so sehr besessen war wie die unsere. Es ist durchaus ein Klassenproblem – und ich schließe mich selbst da mit ein: Wir, die gebildete Klasse, überanalysieren mit Verve und merken dabei nicht einmal, dass vielleicht gerade dieses Überanalysieren die Probleme eher verstärkt denn abschwächt und sie manchmal überhaupt erst schafft. Eine tragische Repräsentantin dieser Klasse, die viel nachdenkt, aber trotzdem nicht sehr ehrlich zu sich selbst ist, ist Lily, die sich ihr eigenes Begehr nicht eingesteht und es stattdessen andauernd zu rationalisieren versucht.

Wie haben Sie den Ton „gefunden“, der zu den Figuren in dieser Zeit passt? Widersetzen Sie sich bewusst einer nivellierenden Literatursprache?

Wieder eine sehr interessante Frage; danke dafür. Ich möchte zuerst den Punkt einer nivellierenden Literatursprache aufgreifen. Sie muss immer ein Phantasma bleiben, es kann sie gar nicht geben; eine möglichst „neutrale“ Sprache, die alle Leser und Leserinnen auf eine möglichst ähnliche Weise anspricht. Jede Literatursprache ist immer auch eine Kunstsprache, mit dem Unterschied, dass eine nivellierende Literatursprache einen Allgemeinheitsanspruch stellt, der ihr gar nicht zukommen kann. Meine Sprache ist da etwas ehrlicher: sie ist ganz offensichtlich die Sprache, die Art des jeweiligen Charakters. Lily und Ana denken anders. Feri und sein Sohn haben nicht denselben Blick auf die Dinge. Mir scheint, es könnte gar nicht anders sein.

Wie habe ich den Ton gefunden? Ich beginne grundsätzlich erst zu schreiben, wenn ich diesem Ton gefunden habe. Ich sage dazu meistens, „ich kann die Figuren schmecken“. Wie spricht die Person, wie sieht sie, wie nimmt sie war? Was kann sie vor sich selbst eingestehen? Wie wirkt die eine Person auf die andere? Beeinflussen sie sich? Ich denke viel nach, bevor ich mich an den Schreibtisch setze, vielleicht mache ich ein, zwei kurze Skizzen – aber richtig schreiben kann ich erst, wenn die Figur da ist. Das ist einer schönsten Momente im ganzen Schreibvorgang – zumindest für mich – und wohl auch derjenige, dessen Hergang am schwersten zu beschreiben ist; zu spüren, dass man die Figur jetzt „schmeckt“. Denn dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Welche Rolle spielt Film für Ihr Schreiben?

Die Filmvergleiche im Buch habe ich eher deshalb eingebracht, um vor Augen zu führen, dass Film schon damals – auch im Burgenland der 1920er Jahre gab es Kinos – ein wichtiges Medium war. Auf einer anderen Ebene hat Film aber vielleicht mehr mit meinem Schaffen zu tun: Ich arbeite gerade an einem Filmdrehbuch, weil mich das Genre sehr interessiert. Ich habe in den letzten Jahren neben den Romanen Essays, Theaterstücke und Lyrik geschrieben, früher habe ich mich viel mit Kurzgeschichten beschäftigt. Es ist mein persönlicher Ehrgeiz, jedes Genre auszutesten und zu sehen, ob und wie es für mich funktioniert. Gerade, was Film betrifft, kann ich noch viel dazulernen; ich hoffe, dass ich in Zukunft auch die Möglichkeit dazu haben werde.

Wie wichtig war Ihnen das Verhandeln von Heimat bzw. Heimatlosigkeit und ein Bezug zu den derzeitigen Auswanderungs- und Fluchtbewegungen?

Die derzeitigen Auswanderungs- und Fluchtbewegungen spielen definitiv eine Rolle. Ich möchte diesbezüglich keine moralinsauren Vorträge halten, sondern still und leise zeigen, dass sich „unsere Leute“ vor 100 Jahren in genau derselben Situation befunden haben wie viele Migranten und Migrantinnen heute. Wenn jemand nicht unmittelbar an Leib und Leben bedroht ist, wird ihm sehr schnell das abfällige Etikett „Wirtschaftsflüchtling“ umgehängt, so, als ob sein Fortgehen, sein Einwandern nicht legitim, vielleicht nicht einmal verständlich wäre. Im Grunde genommen waren aber die Burgenländer und Burgenländerinnen damals nichts anderes als Wirtschaftsflüchtlinge. Seltsam, dass man dieses Wort im letzteren Falle weit seltener zu hören bekommt als beispielsweise „Auswanderer“ oder „Pioniere“, die in den Erzählungen im Gegensatz zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ immer auch etwas Heldenhaftes und Mutiges an sich haben.

 

Herzlichen Dank an die Autorin für das Gespräch! (Die Rezension erschien in kürzerer Fasssung im Österreich Special der Buchkultur 174)

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