Indie-AutorInnen schreiben für uns – Raphaela Edelbauer (16)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist. Beim Hotlistblog kamen bisher nur die fertigen Werke, oft die Großform Roman, solcher AutorInnen zu Wort. Jetzt lassen wir sie direkt für uns und alle Prosa schreiben.

Direkt aus den unheimlichen Tiefen der Vergangenheit entstiegen ist unser heutiger Gast Raphaela Edelbauer. Herzlich Willkommen an der Oberfläche. Wie gut, dass sie wieder da ist und in ihrem Romanprojekt angriffig und sprachmächtig wichtige (gesellschafts-)politische Fragen thematisiert, wie etwa unser heutiges Verhältnis zum Nationalsozialismus, das Sterben der letzten Zeitzeugen und dessen Auswirkungen und wie aufgearbeitet ist das Aufgearbeitete wirklich. Selbstbewusst stellt sich die junge Autorin dabei in die österreichische Tradition des Sprachkritischen. Auch eine Jelinek und ein Bernhard hätten ihre Freude.
In dem Romanprojekt geht es um eine Gemeinde, die auf dem Grundstück eines Grafenehepaars steht und in der die Gesellschaftsstrukturen Österreichs auf merkwürdig atavistische Weise bis heute überlebt haben. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern muss die Erzählerin Ruth dort ein Begräbnis organisieren. Unter eben dieser Gemeinde klafft ein sogenanntes Loch: Nach Jahrhunderten des Bergbaus droht die Gemeinde durch die verästelte Feuchtigkeit abzusinken. Während der NS-Zeit waren dort 2000 Zwangsarbeiter unter Tage, die am Ostermontag 1945 hingerichtet wurden. Eine „Sprachachterbahnfahrt“, die man nicht so schnell vergisst.

 

Das Loch

Das Loch ist von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit.
Es zieht sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, bricht in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schiebt kontinentaldriftartig das nervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hat. Die Bodenkruste wurde im Laufe der Jahrzehnte weicher und weicher: schmatzende Sedimente, die sich unter den Häusern und Straßen hinweg treiben lassen, sich der Verflüssigung hingeben, die in minuziösester Kleinstarbeit Tau und Niesel, feuchte Herbstabende und Gartenschläuche vollbringen, ohne dass man den Prozess mit dem bloßen Auge erfassen könnte. Kein Regen, der nicht wie eine spontane Einblutung dieses unter der Gemeinde schwelende Aneurysma in die Spannung des Platzens führen könnte.

Das Loch ist im Grunde unbeherrschbar. Es senkt sich ab, wie in einem unendlichen Ausatmen des Landes, dessen Brustkorb sich bis an die Rippen senkt; diese aber unerwarteterweise durchbricht und, die Organe verdrängend, ins Bodenlose flüchtet. Der einzige Segen ist, dass all das so langsam geschieht, dass Generation um Generation sich die Sorge darum aufteilt– und man alibihalber jede Woche Zeit hat, die zerbrechenden Fensterbretter, die sich splitternd der Tektonik geschlagen geben, zu tauschen, bevor die Kinder aus der Schule wieder nach Hause kommen.

Der Hauptschlund, ein nicht weniger als 50 Meter breiter, tiefein bis zur Basis des Berges führender, das heißt 200 Meter tiefer Abyss, klafft unter dem Marktplatz und gefährdet die Statik der gesamten Innenstadt, die wie der Gipfel einer Schwedenbombe ihre Fundamente auf porösem Schaum stehen hat. Dieser Schlund, der nicht zufällig entstand, sondern in jahrhundertelanger Misswirtschaft von Bergleuten ins Herz der Stadt gestemmt worden war, besitzt einen mittlerweile vernagelten und abgesicherten Eingang direkt hinter der Kirche. Aber auch sieben oder acht Nebeneingänge, die in der Schule, im Park, neben der Burgruine Zeugnis ablieferten, dass Jahrhundert für Jahrhundert tiefer gebohrt und geplündert worden war. Jede Neben- und Parallelaktion des Abbaus, privat organisierte Erkundungen und kommerzielle Blitzkriegeinstiege, hatten die Grotte so dünnwandig instabil werden lassen, dass es für die Natur ein Leichtes war, ihre Faust um das Gebilde zu schließen.

Man sagt: Alles liege offen.

Im Jahr 1890 hatte ein Großindustrieller namens Winfried Kneiss die bereits seit dem Mittelalter bekannten Kalkvorkommen abzubauen begonnen, wobei eine stets gerüchthaft in der Luft liegende Legende von Goldfunden über dem Vorhaben hing wie ein fern knisterndes Gewitter. Er hatte sich mit einer Legion aus dem Burgenland und westlichen Ungarn kommender Leiharbeiter ausgestattet, die jeden Montag mit dem Zug bis Gloggnitz transportiert wurden, und sodann kolonnenartig die 23 Kilometer bis Groß Einland zwischen 4 Uhr morgens und 9 Uhr zu Fuß zurückgelegt hatte.

Die Straßen blähten sich um diese Uhrzeit, und in kleine Parzellen geteilte Zinshäuser reicherten sich von innen mit Menschenmaterial an, bis freitags um 21 Uhr der Druck wieder entlassen wurde, und das Dorf fürs Wochenende zu einer Geisterstadt wurde. Der Kalk wurde in Tonnen und Abertonnen aus dem Berg ausgelöst und in die Aorten der K.u.K.-Nervensysteme gepumpt, wo er in Prag, Krakau und Lemberg für die florierende Eisenindustrie gebraucht wurde.

Zwischen den Kriegen geschah nichts – das heißt, natürlich geschah alles; denn nachdem das Bergwerk durch einen Spontanverkauf offiziell still stand, begann nun, die in Habachtstellung wartende Bevölkerung eigenmächtig mit improvisiertem Material einzusteigen. Das Loch übte eine mesmerisierende Anziehungskraft aus, ein kollektives Begehren, das das nationalstaatliche Hymen zu durchbrechen strebte, welches das Land von seiner Bevölkerung getrennt hatte, so empfand man. In kürzester Zeit wurde ein Vergnügungslokal unter Tage eingerichtet, ein Casino, im Jahr darauf ein Bordell.

Aber auch privat erotisierte die Tiefe: Da stiegen Gruppen von jungen Männern als Mutprobe in die Nebenschächte; verarmte Familien gingen dem lange wie ein Jucken gespürten Gefühl nach, dass sich auf dem Grund des Steinbauchs Edelmetall finden ließe; somnambule Greise wurden im Morgengrauen in der Nähe des Stollens gesehen und verschwanden für immer.

1939 wurden die Schächte, die an einigen Stellen vierzig Meter tief in den Berg führten, von der Wehrmacht übernommen: ein unsichtbarer, bombensicherer Ort für die Munitionsproduktion. Eine Nebenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen wurde eingerichtet, und nun war es, wie fünfzig Jahre zuvor mit den ungarischen Arbeitern, der normalste aller Anblicke, die unterernährten, fast geisterhaften Männer und Frauen durch die Innenstadt gehen zu sehen, die von ihren Baracken hinter den Wäldern überland in die Grotte getrieben wurden.

Das war alles aufgearbeitet, eingerahmt und zu Infotafeln zusammengefasst in den Boden gestemmt worden – es gab eine Gedenkstätte, die dem Erinnern einen exakt abgezirkelten Radius zuwies, in dessen Orbit man ca. zwei Dutzend Gladiolen pflanzen konnte.

Das heißt: Das Loch hatte eine klar umrissene Biografie, an der zu rühren sich niemand scheute, nur dass allen unter dieser Berührung das poröse, durchlöcherte Land, das kammernartig wabenartige Dorf zu zerfallen drohte.

(Romanauszug)

 

  • Raphaela Edelbauer wurde 1990 in Wien geboren. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst unter Robert Schindel. Ab 2009 Veröffentlichungen in Literaturmagazinen, Anthologien sowie Lesetätigkeit und Auftritte bei Literaturfestivals. 2017 erscheint ihr Debüt Entdecker im Wiener Klever Verlag, illustriert von Simon Gortitschnig. Ebenfalls 2017 ist sie Stipendiatin des Deutschen Literaturfonds.

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Mit herzlichem Dank an die Autorin für den fulminanten Beitrag.

(Foto Raphaela Edelbauer © Victoria Herbig)

(Senta Wagner)

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