Indie-AutorInnen schreiben für uns – Laura Freudenthaler (11)

Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist.
Beim Hotlistblog kamen bisher nur die fertigen Werke, oft die Großform Roman, solcher AutorInnen zu Wort. Jetzt lassen wir sie direkt für uns und alle Prosa schreiben.

Heute kehren wir das erste Laub und freuen uns auch über unseren neuen Gast der losen Prosa-Reihe – die junge österreichische Autorin Laura Freudenthaler. Ja, es ist uns eine Freude. Vor zwei Jahren erschien mit Der Schädel von Madeleine ihr erzählerisches Debüt mit dem trefflichen Untertitel Paargeschichten beim Müry Salzmann Verlag. Viel Lob trug es ihr ein für einen erkennbaren Eigenwillen, Mut und ein emanzipiertes, präzises Schreiben. Die Autorin lässt sich Zeit mit ihrer literarischen Entwicklung: Im Herbst 2017 wird sie ihren ersten Roman im Literaturverlag Droschl veröffentlichen. Wer schon darauf wartet, kann hier ein wenig von einem melancholischen Auszug kosten.

 

Die Königin schweigt

MANCHMAL KOCHTE sie Kaffee und ging, während das Wasser durch den Filter rann, zur Haustür, wie sie es früher jeden Morgen gemacht hatte, um die Zeitung zu holen. In der Zeitungsrolle steckten die Zeitungen von vielen Tagen, und als Fanny sie herauszog, fiel ein kleines Tier auf die Steintreppe. Ein Ohrenschliefer. Als das Kind klein gewesen war, hatte Fanny wieder und wieder die Geschichte erzählen müssen, wie einmal, damals im Dorf, ein Holzfäller zu ihr gekommen war, weil er solche Schmerzen im Ohr gehabt hatte. Das Kind hatte während des Erzählens die Hände in Richtung seiner Ohren gehoben und die Augen geschlossen, weil es nicht sehen wollte, was es sich vorstellte. Es hatte sich die Ohren aber nie zugehalten, sondern bis zum Schluss zugehört und einen Laut zwischen Grauen und Entzücken ausgestoßen, wenn Fanny erzählte, wie sie dem Holzfäller mit der Pinzette einen dicken Ohrenschliefer aus dem Ohr gezogen hatte. Fanny wischte das Tier mit dem Fuß vom Rand der Treppe. Als die Enkeltochter älter gewesen war, hatte sie vorwurfsvoll gesagt, es sei gar nicht wahr, dass Ohrenschliefer in Ohren kriechen, und Fanny habe ihr Schauergeschichten erzählt. Fanny schaute sich im vorderen Teil ihres Gartens um. Die Sträucher mit den kleinen Rosenblüten waren schon lange nicht mehr da. Die Tanne stand unverändert in der linken Ecke des Gartens und zog Krähen an, die lange unbeweglich auf den breiten Ästen saßen. Manchmal ging Fanny bis zum Gartentor und schaute auf die Straße hinaus. Wenn sie einen Nachbarn sah, der sie bemerkte und eine Hand zum Gruß hob, womöglich in ihre Richtung kommen wollte, ging Fanny zurück ins Haus. Sie schenkte Kaffee in eine Tasse. Wenn die Milch sauer war, gab sie ein wenig Wasser dazu. Sie setzte sich an den Esstisch und verrührte einige Löffel Zucker im Kaffee. Sie suchte in einer der Zeitungen das Kreuzworträtsel und nahm einen Kugelschreiber zur Hand. Die Brille lag wahrscheinlich auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer. Sie versuchte, die Angaben zu erkennen, die sich ohnehin seit Jahrzehnten wiederholten, und trug ein paar Buchstaben in die Kästchen ein. Die Enkeltochter sagte, Fannys Buchstaben sähen aus wie Fliegenbeine. Fanny schaute zum Küchenfenster. Früher hatte sie den Briefträger daran vorbeigehen sehen, dann war sie zur Haustür gegangen, hatte die Post entgegengenommen und ein paar Worte mit ihm gewechselt. Jetzt war der Briefträger nicht mehr derselbe und kam zu unterschiedlichen Zeiten. Fanny wusste nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wie spät es war, welche Tageszeit. Sie schaute wieder auf das Kreuzworträtsel. Ein Wort tauchte in ihrem Kopf auf und war nicht das, das sie gesucht hatte. Eine einzelne Silbe, von der Fanny nicht wusste, wohin sie gehörte. Aber wenn sie so am Küchentisch saß, mit einem Kaffee und der Zeitung, dann konnte es geschehen, dass sich der Moment wie früher anfühlte.

SIE WAR immer gern morgens als erste auf den Beinen gewesen, während alle anderen noch schliefen. Es hatte etwas Heimliches, als einzige wach zu sein. Niemand wusste, dass man da war. Eine halbe oder ganze Stunde lang war Fanny allein gewesen, hatte Kaffee getrunken und überlegt, was an diesem Tag zu tun war, hatte dann langsam begonnen mit einzelnen Verrichtungen. An guten Tagen fühlten sich Momente wie früher an, einzelne vergangene Momente, die herüberreichten, weil sie viele Male erlebt worden waren. Oft aber konnte Fanny tagelang nicht aufstehen und auch keinen Moment vom anderen unterscheiden. Sie lag in ihrem Ehebett, das sie nie wieder, jahrzehntelang nicht, mit jemandem geteilt hatte, während vor den Fenstern die Tage vorübergingen. Im Zwetschkenbaum saßen die Vögel, flüchteten, wenn es regnete, kamen wieder, wenn die Sonne schien. Manchmal glaubte Fanny, jemanden um das Haus schleichen zu hören. Das Telefon läutete. Fanny versuchte, in ihrem Körper den Impuls zu erzeugen, der sie aufrichten und aus dem Bett ziehen würde. Vergeblich. Sie hörte dem Telefon beim Läuten zu. Sie stellte sich vor, dass Hanna dem Läuten im Hörer lauschte und darauf wartete, dass Fanny sich meldete. Daran, wie viel Zeit verging, ehe das Telefon zu läuten aufhörte, las Fanny ab, wie groß die Sorgen waren, die Hanna sich machte, und wie groß die Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Auto steigen und in drei Stunden hier durch die Haustür treten würde. Das war erst einmal passiert, aber seither hoffte Fanny jedes Mal, es würde wieder geschehen. Das Läuten hörte auf. Fanny hatte es nicht geschafft, aufzustehen. Vielleicht war es auch die Enkeltochter gewesen. Die hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. Hin und wieder kam eine Postkarte aus dem Ausland. Fanny drehte den Kopf auf dem Polster zur Seite. Auf dem Nachtkasten lag ein Buch mit leeren Seiten und gelb-goldenem Einband. Es erinnerte Fanny an die Enkeltochter. Nur die erste Seite des Buches war nicht leer, darauf hatte die Enkeltochter geschrieben: Liebe Oma. Und darunter stand, sie schenke Fanny dieses Buch für das Aufschreiben ihrer Erinnerungen. Die Enkeltochter hatte mit Fanny über Erinnerungen sprechen wollen. Nicht deine Märchen aus dem Dorf, hatte sie gesagt. Die wirkliche Vergangenheit. Fanny hatte gelächelt. Sie hatte nicht verstanden, was das Kind von ihr wollte. Sie wusste es noch immer nicht. Vielleicht hatte das Kind mittlerweile verstanden, dass man die Toten besser ruhen lässt, und war deshalb verschwunden. Für die Enkeltochter gehörte sie selbst möglicherweise auch zu den Toten. Ob sie denn keine Bilder aus ihrer Kindheit behalten habe, hatte die Enkeltochter gefragt. Bilder, hatte Fanny gefragt. Fotos, hatte die Enkeltochter gesagt. Sie war ungeduldig gewesen. Über gewisse Dinge spricht man nicht, sagte der Vater. Alles, was einmal gewesen war, befand sich nun hier in diesem Haus. Fanny hörte Geräusche aus dem Keller, als arbeite jemand an der Werkbank. Der Morgen, an dem sie den Becher mit dem Kaffee unter den Ribiseln auf der Erde stehengelassen hatte, war ihr als Bild in Erinnerung geblieben. Der gelbe Ärmel ihrer Bluse im Ribiselstrauch, zwischen dem Grün der Blätter und dem hellen Rot der Beeren. Sie war Schulmeisterin, und niemand außer ihr im Dorf trug Blusen. Der Pfarrer bewunderte Fannys Schönheit. Sie drehte den Kopf auf die andere Seite.

(Romanauszug)

091-8

  • Laura Freudenthaler, geboren 1984 in Salzburg. Studium der Germanistik, Philosophie und Gender Studies in Salzburg und Wien. Lebt und arbeitet in Wien als Übersetzerin und Autorin. Zahlreiche Publikationen in Zeitschriften (u. a. manuskripte, Lichtungen). 2014 erschien Der Schädel von Madeleine. Paargeschichten im Müry Salzmann Verlag.

 

 

 

 

 

Foto der Autorin: ©Marianne Andrea Borowiec

(Senta Wagner)

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