Trödelpost aus Wien – Elfriede Gerstl dichtet, träumt, denkt

71nOa2Z8AgL„So nebenbei geschieht das Ausserordentliche“

Werkausgaben sind eine herkulische Aufgabe. Sie rücken Dichtergrößen mit ihrem ganzen Schaffen ins Licht der Nachwelt. Manches Mal bringen sie auch den Ruhm mit, den es zu Lebzeiten nicht gab. Doch Verlage, Herausgeber und andere brauchen dazu meist einen langen Atem über Jahre hinweg.
Eine besondere und vorzüglich zusammengestellte Edition ist nun auch die auf fünf blass mintfarbene Bände angelegte Gesamtschau der Wiener Dichterin Elfriede Gerstl. Sie beinhaltet deren gesamte multiple literarische, kritisch engagierte und essayistische Produktion und erscheint bis 2017 beim Literaturverlag Droschl. Hier und heute in der Auslage sind die Tandlerfundstücke (= Band 4) zu bestaunen. Sie zeigen die schon früh entstandene eigenständige ästhetische Position der Stadtwandlerin und Kleidersammlerin Gerstl. Nur sie macht aus einfachen Krümeln „Denkkrümel“ und betitelt damit einige ihrer Miniaturen. In ihrer pointierten Kürze zielen sie ab auf das Beiläufige, das Nebenbei, das Schwebende. Gerstl tut das spielerisch, direkt, ironisch, kalauernd, hellwach, leichtfüßig, ohne sprachlichen Ballast, fast umgangssprachlich. Neben den zahlreichen Gedichten zeichnet sie auch Träume in ihrer fragmentarischen Form auf. Eine „Meisterin des Minimalismus“ sei sie, heißt es. In anderen Beiträgen des Tandler-Bandes zeigt sie sich ebenso kritisch wie feministisch und sprachphilosphisch versiert.

„Der vierte Band der fünfbändigen Werkausgabe Elfriede Gerstls (1932–2009) umfasst das nach ihrem Tod 2009 erschienene Buch Lebenszeichen. Gedichte Träume Denkkrümel und sämtliche seit 1955 verstreut publizierten „Texte aus sechs Jahrzehnten“.
Es gibt einige Überraschungen im hier erstmals vollständig nachzulesenden Frühwerk von Elfriede Gerstl zu entdecken. In den Gedichten und der Kurzprosa, die vor allem in den Zeitschriften Neue Wege und Das jüdische Echo erschienen sind, begegnen wir einer jungen Frau, die im Nachkriegsösterreich auf der Suche nach ihrer eigenen literarischen Stimme ist. Die Themen ihrer Texte sind vielfältig und reichen von heiter-skurrilen Alltagsgeschichten über religiös-mystische Allegorien bis zu Bedrohungsszenarien des Kalten Kriegs und autobiografischen Texten zum Holocaust.
In den ersten Jahrzehnten ihrer Laufbahn als Schriftstellerin arbeitete sie auch als Kritikerin, die dann ab den 1970er-Jahren in Essays die gesellschaftlichen Untiefen des Kulturbetriebs und der Frauenbewegung ironisch sezierte. Ihre luziden Texte zu befreundeten AutorInnen und bildenden Künstlerinnen, u.a. zu Elfriede Jelinek, Ernst Jandl, Angelika Kaufmann oder Friederike Mayröcker, zeigen Gerstl zudem als präzise Leserin und Interpretin.“ (Droschl Verlag 2015)

nach strenger diät

organe gesund
ansonsten am hund

höfliche ablehnung
einer einladung

ich kann nix essen
ich kann nix trinken
ich kann mich nur anspeiben
danke sehr

juli 2008

denkkrümel 03

mir
fällt kein
ersatz für mich
ein

herbst – winter 2008/2009

(alle Texte aus Band 4)

  • Elfriede Gerstl: Tandlerfundstücke. Werke Band 4. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Martin Wedl, in Zusammenarbeit mit dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Mit Fotos und Faksimiles. Graz: Literaturverlag Droschl 2015. 368 Seiten. 29 Euro

 

Die Einzelbände der Gesamtausgabe, die jedes Jahr zum Geburtstag der Autorin erscheinen:
Band 1 Mittellange Minis. Werke 1962–1977
Band 2 Behüte behütet. Werke 1982–1993, Juni 2013
Band 3 Haus und Haut. Werke 1995–2009, Juni 2014
Band 4 Tandlerfundstücke. Verstreut publizierte Texte 1955–2009 und der Band Lebenszeichen, Juni 2015
Band 5 Das vorläufig Bleibende, Juni 2017

 

Senta Wagner

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